„Da haben die Dornen Rosen getragen …“
Predigt zum 4. Advent gehalten in der Pauluskirche in Zehlendorf
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
heute haben wir nun das vierte Licht angezündet für den 4. Advent. Es wird immer heller in dieser dunklen Jahreszeit. Immer mehr Licht leuchtet und in den nächsten Tagen erstrahlt dann bei einigen auch die Lichterfülle am Weihnachtsbaum. Für mich war dieser Weg hin zu Weihnachten mit dem zarten Lichterglanz, der mitschwingenden Symbolik, der besonderen Stimmung und möglichen Vorfreude schon immer ein besonderer Weg gewesen. Dazu gehörten die Geschichten aus dem Lukasevangelium, die von Maria erzählen und ihr besonderes Leben in ein Licht des Glaubens stellen. Das Thema des 4. Adventssonntags ist die Freude, wie wir es aus dem Philipperbrief gehört haben. In den Worten des Schreibers geht es um die Erwartung der Veränderung durch den Beginn des Gottesreiches. Die frühen Christen erwarteten das Wiederkommen Christi in naher Zukunft. Und da es nach ihrem Verständnis nicht mehr lange dauerte, war es ein Grund zur Freude. Streit wird zur Seite gelegt. Es lohnt nicht, seine Zeit mit solchen Nebensächlichkeiten zu vergeuden. „Freuet euch, und abermals sage ich euch, freuet euch! Nahe ist der Herr.“
Traditionell steht am 4. Advent auch Maria im Fokus der Geschichten. Wir haben heute die Erzählung von der Verkündigung durch den Erzengel Gabriel gehört. Innerlich habe ich Bilder aus der Kunstgeschichte vor mir. Ich sehe eine herrschaftliche Gestalt, die im Gemach einer jungen Frau erscheint, um ihr ein Wunder zu verkünden. Maria, die wundersame Jungfrau, die im Laufe der Geschichte immer heiliger, immer unnahbarer wurde. Im fünften Jahrhundert erklärte man sie zur Gottesgebärerin und im 19.Jahrhundert wurde die von ihr erzählte Himmelfahrt zum Dogma erklärt. Ich konnte mit dieser Frau sehr lange nichts anfangen, denn für mich ist die Verehrung nicht erreichbarer Heiliger ausgesprochen bedeutungslos. Ich teile nicht das Weltbild, das dahintersteht und auch nicht die Gottesidee eines herrschaftlichen Königs, der lauter Mittler braucht. Mein Weg zu Maria fand ich durch die Lebensnähe. Irgendwann habe ich verstanden, dass diese Frau sehr jung war, als sie schwanger wurde – 12 / 13 Jahre vielleicht. Und sie war nicht verheiratet, was für ihre Situation katastrophal war. Sie musste die Schwangerschaft verheimlichen, denn auf den Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe stand damals die Todesstrafe. Sie war also eine zum Tode Geweihte. Die Schwangerschaft hätte sie vielleicht unter Gewändern verbergen können. Aber spätestens bei der Geburt wäre alles herausgekommen. Das Kind hätte sie nicht verbergen können.
Ja, diese Situation des Ausgegrenztseins klingt in mir an. Mit meiner Art zu leben meinten oft Menschen, dass ich nicht dazugehöre, dass ich nicht den Normen und Regeln entspreche. Nicht wissen, wie es weitergehen kann und doch einen nächsten Schritt wagen, ein solches Lebensgefühl kenne ich. Und möglicherweise ist einigen von ihnen das auch nicht fremd. Manche sprechen von Normalität und wenn wir genauer hinschauen, dann müssen wir fragen: Was ist denn normal? Kein Mensch gleicht dem anderen und so leben wir auch alle verschieden und haben unsere sehr eigene und besondere Art und Weise zu leben.
Wir haben gerade das Lied: „Maria durch ein` Dornwald ging“ gehört. Die Dornen, die Maria umgaben, durch die sie ging, waren eine Gesellschaft mit ihren lebensbedrohlichen Regeln. Machen wir uns klar, die Weihnachtsgeschichte ist keine liebliche Geschichte von der Geburt eines kleinen Kindes, das die Welt retten wird, sondern die Fluchtgeschichte einer Familie, die aus rechtlicher Sicht noch nicht einmal eine war. Maria und Josef waren vertraut – also verlobt – als Jesus geboren wurde. All das durfte nicht bekannt werden, darum ist eine Geburt in der Ferne sehr vorteilhaft. Auch das Wegbleiben in der Fremde kann als Taktik der Verschleierung verstanden werden. Als sie nach Jahren nach Nazareth zurückkehren möglicherweise schon mit mehreren Kindern, fragte keiner mehr, wann der Erstgeborene zur Welt kam und wann sie denn geheiratet hätten. Die Flucht ermöglicht das Leben von Mutter und Kind, sie ermöglicht ihnen eine Zukunft.
Liebe Gemeinde, kommen wir zurück zu der Begegnung mit dem Engel Gabriel. Wir haben uns daran gewöhnt, einen Engel mit Flügel zu denken. Engel sind Boten von Gott, die für einzelne Menschen etwas Bedeutendes bewirken. Wer mag dieser Engel in Marias Leben gewesen sein? Flügel hatte er sicher nicht. Die Frau, die durch die Schwangerschaft vom Tod bedroht war, hat das Kind sicher eher am Anfang verflucht als geliebt. Aber sie kommt zu einem ganz anderen Urteil aus dem Glauben. Der Engel wird ihr erklärt haben, dass Gott ein Vater aller Menschen ist. Und in jedem Menschen steckt das Potenzial, dass er die Welt verändern und die Welt retten kann. Jede jüdische Mutter glaubt bis heute, dass sie den Messias zur Welt bringen wird. Die daraus resultierenden Erziehungsmethoden sind nicht immer vorteilhaft für die Kinder, aber ein Ausdruck der Glaubenshoffnung der Mütter. Dieser Engel wird mit Maria einen Fluchtplan besprochen haben, einen Weg, der in die Rettung führt. Nichts durfte nach außen dringen. Jeder Verdacht hätte schlimme Folgen haben können. Darum ist es eine großartige Begegnung, als Maria zu ihrer Cousine Elisabeth geht und ihr davon erzählt. Auch hier wird sie nicht verurteilt, sondern es herrscht Freude. Die Kinder hüpfen in den Leibern der Frauen. Welch ein schönes Bild. Und Maria singt dann ein Lied, in dem deutlich wird, dass bei Gott die Dinge ganz anders sind, als sie vor unseren Augen erscheinen, und dass bei Gott ganz andere Wege möglich sind, als wir Menschen sie vielleicht denken und vorschreiben. Das Göttliche ermöglicht Leben und Freiheit für jeden einzelnen und für viele.
Liebe Gemeinde, in der dritten Strophe des gehörten Liedes heißt es, „Da haben die Dornen Rosen getragen …“. Stachlige Dornenbüsche beginnen zu blühen wie Rosen. Ich finde dieses Bild unglaublich. In Israel gibt es in der trockenen Landschaft Gestrüpp, das wenig lebendig erscheint mit seinen Dornen und in unwirklicher Umgebung. Übertragen auf Marias Situation bedeutet es, dass in den bedrohlichen Umständen, eine Lebens-, eine Überlebensmöglichkeit entstanden ist. Blüten als Zeichen der Lebendigkeit. Und so kommt mir Maria immer näher mit ihrer Lebenswelt. Sie trägt Hoffnung unter ihrem Herzen, die das unwirkliche Leben wandelt. Und wenn ich mich Maria in dieser Art und Weise annähere, dann merke ich, dass die Bilder auch zu mir und in meine Lebenswirklichkeit sprechen.
Eine dornige Gesellschaft – wer hat solche Erfahrungen nicht schon gemacht, dass er nicht dazu gehört, in seiner Art und Weise zu leben, angefragt wurde? Regeln sind gut und notwendig zur Orientierung im Alltag, aber nicht immer sind sie für alle lebensförderlich. Und doch tragen Menschen Hoffnung in ihrem Herzen, eine Hoffnung die Wirklichkeit verwandeln kann. Dornen können Rosen tragen. In Gottes Gegenwart entsteht der Freiraum, in dem Leben entstehen kann und Freiheit aufblüht. Dieser Freiraum ist aber nicht leer, denn er ist erfüllt von Liebe. Und so können Menschen durch die Liebe zu einander etwas erfahren von Freiheit untereinander und sie wachsen lassen.
Ich denke, diese Idee ist für uns heute von einer großen Bedeutung. Denn moralische Urteile und das Wissen darum, was richtig und was falsch ist, helfen uns bei den Problemen der heutigen Zeit wenig dazu, ein Gespräch zu führen über Zusammenhänge, die sehr schwierig und komplex sind. Ein Gespräch ist möglich, wenn wir uns in der liebenden Gegenwart Gottes begegnen, aber nicht vorher schon wissen, wie der andere ist und welches Urteil wir über ihn haben. Schwierig wird es, wenn Menschen eine Überzeugung haben, einen Glauben, eine Lehre, eine Ideologie und diese durchsetzen wollen.
Das Bild von den Rosen unter den Dornen ist eine Anregung an unsere Phantasie, zu überlegen, ob es nicht ganz andere Möglichkeiten gibt, friedlich unterschiedliche Positionen oder Probleme zu lösen. Die Welt wird sich wandeln, auch unsere Welt und unsere Gesellschaft. Sicher macht dem einen oder anderen dieser Wandel Angst und es entstehen Sorgen darüber, wie alles weiter gehen soll. Je überzeugter Menschen von ihren eigenen Ideen sind, desto weniger können sie den Freiraum der Liebe Gottes zulassen und sich auf ihn verlassen.
Maria kann uns darin als Vorbild dienen. Diese Frau ging im tiefen Vertrauen auf Gottes Liebe ihren Weg weiter, ohne zu wissen, wie es ausgehen wird. Sie hatte den Mut, ihr Leben in einem neuen Licht zu sehen und eine neue heilige Geschichte zu erzählen, die zum Wohle aller da sein sollte.
Liebe Gemeinde, ich wünsche uns diesen Mut, unseren Blick auf die Wirklichkeit unseres Lebens zu verändern und dadurch etwas anders und neu zu sehen. Beginnen wir unsere eigene Geschichte in das Licht von Gott zu rücken, um sie als eine heilige Geschichte zu erzählen. Beginnen wir die Hoffnung in unserem Herzen zu nähren, damit die Dornen in unserer Umgebung Rosen tragen. Lassen wir uns ein auf die Liebe Gottes, die alles durchdringt, trägt und bewegt. Damit wir dem Ruf folgen können: Freut euch und abermals sage ich freuet euch!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alles Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.