Predigten

Reformationsgedenken – verantwortlich Handeln

Predigt zu Mk.10, 13-16; Röm.8,38.39; Hld.8,6b-7 gehalten am 30. Oktober 2022 in der Pauluskirche in Zehlendorf

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

morgen gedenken wir der Reformation vor 500 Jahren. Am 31.Oktober 1517 verfasste Dr. Martin Luther in Wittenberg seine Thesen gegen den Ablasshandel und wollte damit eine Debatte über die Missstände in der Kirche auslösen. Nach seinen Erkenntnissen war es unmöglich, sich das Heil bei Gott zu erkaufen oder zu verdienen. Er sah im Glauben an Jesus Christus den Grund für die Nähe zu Gott und die verbindende Kraft zu ihm. Er verstand, dass wir Menschen durch Christus eine offene Tür bei Gott haben, um den Kontakt zu ihm zu pflegen und ein verantwortliches Leben in der Welt zu führen. Das war eine revolutionäre Erkenntnis, denn sie machte die Vorstellung und die Angst vor der Kraft der Hölle überflüssig. Ja, sie macht auch die kirchliche Vermittlung durch Priester und Bischöfe überflüssig. Konnte und sollte nun jeder Glaubende selbst der Mittler zu Gott sein – direkt und unverstellt. Ist doch die Kraft des Christus in jedem und jeder. So war es auch schlüssig, dass jeder einzelne die Bibel selbst in seiner Muttersprache lesen können muss. Luther erstellt zwar nicht die erste Bibelübersetzung ins Deutsche, aber er übersetzte mit seinem Team die Bibel so, dass der einfache Mann und die Frau von der Straße sie verstehen konnten. Er „schaute dem Volk aufs Maul“ und kam mit seinen Worten der Poesie des Hebräischen und dem Griechischen sehr nah. Und so können wir bis heute die Texte lesen, um über sie nachdenken, zu debattieren und sie für unser Leben auszulegen. Eine großartige Veränderung und ein großartiges Geschenk.

Liebe Gemeinde, aber schon die Reformationsgeschichte zeigt, dass es nicht so einfach ist, so einfache Zeilen, wie unser heutiger Wochenspruch zu verstehen: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8) Was ist gut? Was bedeutet es, Gottes Wort zu halten? Ist das aufgeschriebene Wort allein gemeint oder wie es die Kirche oder eine andere Autorität versteht und interpretiert? Und was heißt es, demütig zu sein vor Gott? Martin Luther hatte eine grundlegende Haltung in diesen Fragen im Gegensatz zu den Kirchenvertretern der damaligen Zeit. Er setzt Demut vor Gott nicht mit der Demut vor der Kirche und ihren Lehren gleich. Gottes Wort war für ihn lebendig und musste immer wieder neu verstanden werden, so dass seine Auslegung nicht in Dekreten und Beschlüssen von Konzilien festgeschrieben werden konnte, sondern es muss gelebt werden und sich im liebenden Handeln gegenüber seinem Nächsten erweisen. Er war mit dieser Sichtweise nicht allein und so entstand eine neue Bewegung, die gegen die bestehende Kirche protestierte.

Liebe Gemeinde, heute dürfen wir das Erbe Matin Luthers leben. Wir können die Bibel lesen, wir können darüber debattieren und sie auslegen in unsere Zeit hinein und uns auf die Suche des Glaubens begeben. Halten wir uns nicht mit Protest und Kritik auf, sondern schauen wir, welche Ideen uns aus den Worten, die wir heute gehört haben, für den Alltag helfen.

Im Wochenspruch ist von der Liebe die Reden. Sie taucht in allen Texten des heutigen Sonntags direkt oder indirekt auf. Beginnen wir bei dem indirekten Bild. Im Markusevangelium wird uns von Jesus erzählt, wie er die Kinder zu sich lässt, sie segnet und in ihnen eine besondere Eigenschaft herausstellt. So sagt Jesus: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Kleine Kinder sind oft mit ihrem Herzen bei der Sache. Sie können in einem Augenblick sehr froh und gelöst sein und im nächsten schon traurig und von Tränen aufgelöst. Wir, Erwachsenen, sind oft unsicher und wissen nicht, was wir mit dieser Wechsel anfangen sollen. Sprunghaft und oberflächlich sind Worte, die ich immer wieder höre. Dabei leben Kinder im Augenblick und der kann von einem zum anderen ganz anders sein. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf genau das, was gerade geschieht und worauf ihre Wahrnehmung gerichtet ist. Sie versinken im Moment.

Liebe Gemeinde, dieser Haltung wird die Teilhabe am Reich Gottes, an der göttlichen Gegenwart in dieser Welt zugesprochen. Und so gibt es eine erste Idee, die wir festhalten können für unsern Alltag: Wir nehmen genau wahr, was gerade geschieht. Wir versinken wie ein Kind im Augenblick.

Das klingt einfach. Doch wer sich hinsetzt, um einen Augenblick der Stille wahrzunehmen, wird ganz schnell von seinen Gedanken und Konzepten, von Geräuschen, Körperempfindungen und anderem eingeholt. Denn da ist ganz viel in jedem Augenblick. Wenn sie es probieren, dann nehmen sie all das, was sich zeigt, einfach wahr, ohne es zu bewerten. Die Bewertung gehört zu einem Konzept und hält sie vom Augenblick ab. Also ist sie in dem Augenblick überflüssig. Und dann fragen sie weiter: Was ist denn noch da? Was kann ich noch wahrnehmen hinter allem, was sich jetzt zeigt? Dies Idee aus dem Markusevangelium lädt uns zu einer Reise in den Augenblick ein, in die Wahrnehmung und in seine Tiefe. Und vielleicht tauchen wir auch in die Fülle ein, die mehr ist als die Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen.

Jesus nennt es das Reich Gottes – eine Wirklichkeit, die unsere Sinne übersteigt und größer ist als all unsere Ideen. Jedoch beschreibt das Wort „Liebe“ die Qualität dieser Gegenwart. Im Römerbrief sagt Paulus, dass uns Menschen im Glauben nichts trennen kann von der Liebe Gottes. Sie ist so groß und auch so nah, dass selbst der Tod keine Chance hat. Konnten wir aus dem Tod Jesu doch lernen, dass Gottes liebende Gegenwart durch den Tod hindurch reicht und das Leben Jesu in der Auferstehung bestätigte. Und so werden wir von dieser Idee des Paulus gefragt, ob wir uns auch in dieser tragenden Liebe Gottes verstehen können? Fühlen wir uns als von Gott geliebte Wesen, die dieser Liebe jeden Augenblick und für alle Zeiten teilhaftig sind? Ist unser Leben ein Ausdruck dieses Vertrauens und dieses Getragenseins? Es ist in schwierigen Zeiten sehr wichtig, dass wir wissen, auf welchem Grund wir stehen. Brauchen wir die Bestätigung, die Fürsorge von anderen Menschen und Institutionen oder trägt uns unser Vertrauen auf die liebende Gegenwart Gottes? Diese Liebe Gottes hat also sehr viel mit uns selbst, unserer Haltung zum Augenblick und mit unserem Vertrauen zu tun. Es beginnt bei uns. Und so lädt uns diese Idee des Paulus ein, dem Grund unseres Vertrauens nachzugehen. Wenden wir uns der liebenden Gegenwart Gottes zu oder richten wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge? So sind wir eingeladen, dem Göttlichen in unserem Leben mehr eine Chance zu geben.

Liebe Gemeinde, Liebe ist aber auch eine Qualität, die wir Menschen sehr kraftvoll im Zusammenleben erleben können. Das Hohelied der Liebe findet dafür starke Worte, die ich ihnen nicht vorenthalten möchte. Da heißt es im 8.Kapitel: „Denn Liebe ist stark wie der Tod … Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, so dass auch viele Wasser die Liebe nicht auslöschen und Ströme sie nicht ertränken können. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so könnt das alles nicht genügen.“ (8,6b-7) Das Hohelied geht von einem sehr sinnlichen Aspekt der Liebe aus, den Menschen erfahren können, wenn sie sich ganz aufeinander einlassen. Menschen versinken miteinander im Augenblick und werden eins. Damit können sie die Kraft dieser Liebe erfahren, die von keinem Element der Welt überwunden werden kann und dessen Wert größer als aller Reichtum ist. Die dritte Idee führt uns nun in den körperlichen Bereich unseres Menschseins. Miteinander versinken im Augenblick – manch einer denkt dabei an Sexualität. Doch würde ich den Blick gern darüber hinaus richten. Denn auch Kinder versinken miteinander im Augenblick im Spiel. Im gemeinsamen Tun verlieren sie sich, werden eins in den Bewegungen und gestalten so etwas Neues. Da gibt es keine Konzepte, keine Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Da steht vorher nicht schon fest, was entstehen soll. Da ist die Zukunft in gewisser Weise offen. Im gemeinsamen Tun im Augenblick versinken, um aus der Berührung des Moments etwas Neues in Liebe zu erschaffen.

Liebe Gemeinde, in unserer Welt sind wir bisher sehr den Ideen unseres Verstandes gefolgt. Es ging um Reichtum, Wohlstand, Bequemlichkeit, Anerkennung in der Gesellschaft und um immer mehr. Diese Ideen haben uns jedoch an den Rand einer Katastrophe geführt. Und wenn wir diesen Weg weitergehen, dann ist der Abgrund nicht mehr weit. Die Ideen der liebenden Gegenwart Gottes laden uns zu einer Veränderung unserer Haltung ein. Tauchen wir ein in den Augenblick, finden wir den Grund unseres Vertrauens und gestalten wir Gemeinschaft neu, so dass die Lebendigkeit der Liebe Raum finden und Gestalt annehmen kann in unserem Zusammensein.

Heute brauchen wir keine Reformation von Institutionen in erster Linie. Heute brauchen wir eine Reformation unseres Menschenseins. Werden wir zu den liebenden Menschen, als die wir von Gott aus gedacht sind.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.