Predigten

Finde deine Grenzen und überschreite sie

Predigt zu Jer. 29,4-7.11-14 und Mt.5, 38-45 gehalten in der Pauluskirche Berlin-Zehlendorf am 20. Oktober 2024

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

die biblischen Texte, die wir heute hörten, haben sicher ganz unterschiedliche Wirkungen bei ihnen. Werden die vermeintlichen Konsequenzen dieser Geschichten gerade im politischen Geschehen dieser Tage als Handlungsrahmen von verschiedenen Seiten diskutiert. Das Beste tun für den Ort, an dem ich leben; den Feind lieben sind Forderungen, die in besonderer Weise dem Christentum zugeschrieben werden und bis heute ihre Wirkung haben. Ich denke, es lohnt sich, wenn wir einmal genauer auf die Zusammenhänge schauen und uns die Hintergründe der Geschichten klarmachen.

Beginnen wir bei den Worten von Jeremia. Er selbst stellt voran, dass er einen Brief an die Menschen schreibt, die nach der Eroberung des Königreiches Juda in die babylonische Gefangenschaft geführt wurden. Wir befinden uns nach dem Jahre 587 v.Chr. – also ca. 2500 vor unserer Zeit. Die Menschen aus Israel haben ihr Leben eng verbunden mit dem Land Israel gesehen, mit der Stadt Jerusalem und dem Tempel – dem Haus Gottes – dort. All dies haben sie durch die Eroberung der Babylonier verloren. Wie sollte es nun weitergehen ohne diese Garantien für ihr Leben? Jerusalem war ein Trümmerhaufen, die Tempelmauern geschliffen. Wie sollte es weitergehen in einem Land, in dem ihr Gott eigentlich nichts zu sagen hatte? Wie sollte es weitergehen in einem Land, das ihnen fremd und feindlich vorkam, in dem alle Götter so viel mächtiger erschienen? Jeremia hat aus der damaligen Sicht einen sehr unbequemen Rat: Die Israeliten sollen Häuser bauen, sich einrichten und die Zukunft ihrer Familien in Babylon aufbauen und gestalten, damit dieses fremde Land ein Zuhause, eine neue Heimat werden kann. Die Kritiker Jeremias haben darin den Verrat am Gott Israels gesehen, denn Adonai ist Herr im Land Israel und hat sein Haus in Jerusalem. Jeremia spricht mit seiner Empfehlung jedoch auch aus, dass ihre Vorstellungen von Gott möglicherweise sehr eng sind. Denn Gott ist mit dem Volk in die Gefangenschaft gegangen. Und wenn sie sich dort einrichten, dann können sie dort auch mit ihren Traditionen, ihrem Glauben an Gott ein neues Zuhause finden. Jeremias Rat bedeutet, die Gegenwart zu akzeptieren und die Veränderung der Situation anzunehmen. Sie bedeutet auch, darauf zu vertrauen, dass die Gegenwart Gottes nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist. Und damit den gegenwärtigen Augenblick anzunehmen, auch wenn ich ihn eigentlich ablehnen möchte. Die Glaubenden werden aus der Komfortzone ihres Glaubens herausgelockt. Sie sollen Gott groß denken.

Schauen wir nun auf die Worte Jesu aus der Bergpredigt. Die Ideen, die uns hier vorgestellt werden, sind sehr besonders. Jesus empfiehlt, dem, was wir als übel, als für uns böse oder nicht zumutbar empfinden, hinzunehmen, ihm wohlwollend und offen zu begegnen. Den Feind lieben, den Mantel geben, wenn einer um den Rock bittet; großzügig sein jedem gegenüber. 

Wenn wir uns die Lebensbedingungen der Menschen damals klar machen, dann wird die Aufforderung noch provokanter. Die Römer war die Besatzungsmacht in Israel. Ihre Gesetze waren Ausdruck der eigenen Herrschaft und der Unterdrückung der jeweiligen Bevölkerung. Jeder römische Soldat konnte einen jüdischen Bürger nötigen, sein Gepäck eine Meile zu tragen. Diese Demütigung musste dieser hinnehmen, denn das Gesetz nötigte ihn dazu. Jesus fordert die Hörer auf, nicht nur eine Meile mitzugehen, sondern zwei. Er sagt liebt nicht nur euren Nächsten, der nett zu euch ist, sondern auch eure Feinde. Denn beide werden von Gottes Sonne beschienen.

Liebe Gemeinde, ich denke, sie merken die Provokation, die Herausforderung. So einfach können wir das nicht hinnehmen, denn eine solche Haltung berührt unsere Vorstellungen und unser Empfinden von Gerechtigkeit in der Gemeinschaft. Wie sollen wir solche Verhältnisse, die klar auf Unrecht beruhen, hinnehmen? Der Protest entsteht doch von allein, da muss ich gar nichts dafür tun.

Machen wir uns den Rat des Jeremia klar und auch die Lehre Jesu, dann lehren uns beide, den Augenblick anzunehmen und den Kampf, den Widerstand, den Protest gegen das Unvermeidbare zu beenden. Nehmen wir das hin, was wir nicht ändern können.

In Mitteleuropa ist unsere Situation recht komfortabel, denn unser Leben ist nicht von Waffen bedroht. Wir haben ein Problem mit der Verteilung unseres Reichtums, aber ansonsten können wir hier kaum von Übeln sprechen, die wir hinnehmen müssten. Äußerlich unterscheidet sich unsere Lage deutlich von den Bedingungen in Babylon oder zur Zeit Jesu. Jedoch können wir auf einer anderen Ebene etwas lernen.

Wir erleben Menschen, die zu uns kommen, da sie ihre Heimat verlassen müssen, als Bedrohung. Wir werten unsere Lage als unsicher oder schauen skeptisch in die Zukunft, angesichts der Entwicklung. Wir sind misstrauisch gegenüber denen, die eine Lösung vorschlagen und ausprobieren. Der Welt, da draußen, begegnen wir mit vielen Bedenken oder wir sehen sie sogar als feindlich an. Jeremia sagt, „Suche der Stadt Bestes“; Jesus sagt“ Liebe deine Feinde.“ Die Bewertungen unserer Umwelt, die wir abgeben, haben etwas mit unseren Erfahrungen zu tun, mit unserer inneren Haltung. Und so wird die Welt um uns herum zu einem Spiegel unserer Sichtweise, unserer Gefühle, unserer Einstellung, die wir in uns tragen. Wenn wir in der Welt einen Feind erblicken, dann gibt es etwas in uns, das dieses Spiegelbild in der Außenwelt erzeugt. Wenn wir jemanden abschieben wollen, da wir in ihm eine Bedrohung sehen, dann erzeugt etwas in uns diese Überzeugung. Wenn wir unzufrieden sind mit dem Handeln eines anderen, dann erzeugt ein Anteil in uns diese Unzufriedenheit. Wenn Jesus also sagt, „Liebet eure Feinde“, dann ist es als erstes eine Aufforderung, diese angefeindeten Teile in uns zu finden und mit ihnen Frieden zu schließen, sie lieben zu lernen. Der erste Schritt liegt bei uns und beim Frieden mit uns selbst. Auch Jeremia fordert uns auf, nicht weiter wegzulaufen und die Hoffnung irgendwo in weiter Ferne zu sehen. Hier und jetzt beginnt Frieden. Hier und jetzt in uns, mit uns selbst.

Ein Gebet, das Franz von Assisi zugeschrieben wird, fasst zusammen, was gemeint sein kann:  

Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.
Herr, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.
Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben.

Liebe Gemeinde, nun könnten sie meinen, dass dieses Gebet doch eigentlich ein Widerspruch zu dem ist, was ich gerade gesagt habe. Jedoch vergessen wir sehr leicht, dass wir uns selbst erst finden müssen, bevor wir uns hingeben können. Nur wer Trost in sich gefunden hat, kann andere trösten, wer Freude in sich selbst hat, kann Freude in die Welt tragen, wer Licht in sich spürt, kann der Finsternis in der Welt lichtvoll begegnen.

Wir leben in einer Welt, die uns kaum oder gar nicht bedroht. So dürfen wir lernen, dass die Wurzeln allen Übels, aller Feindseligkeit, allen Böses in uns selbst liegt. Und wir haben die Möglichkeit, dies zu erkennen und zu verändern. Wir dürfen unsere eigenen Grenzen erkennen und diese überschreiten. Dazu schenke uns Gott offene Augen, Mut im Herzen und die Sehnsucht, Frieden in diese Welt zu tragen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne, in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.