Predigten

Gedenke der Barmherzigkeit

Predigt gehalten am 25.2.2024 in der Alten Dorfkirche in Zehlendorf

Lesungen 4.Mose 21, 4-9; Mt. 5,3-10

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Liebe Gemeinde,

mit dem heutigen Sonntag Reminiszere sind wir richtig in der Passionszeit angekommen. Seit dem Aschermittwoch steht der Leidensweg Jesu im Mittelpunkt des christlichen Lebens. In diesen Wochen vor Ostern hat das Leid in dieser Welt einen Platz in unserem Alltag, in unserem Denken und in unserem Glaubensleben. Es ist eine lange Tradition, dass Menschen in dieser Zeit durch einen bewussten Verzicht, die Routine ihres Lebens ändern und somit Raum gewinnen für andere Gedanken, für ein anderes Tun und Handeln.

Der Sonntag Reminiszere lädt zu einem solchen anderen Denken und Handeln ein. Seinen Namen hat er von dem Psalm 25 Vers 6, den wir vorhin gebetet haben. „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend.“ Gott wird aufgefordert, seinen Blick zu wenden, seine Aufmerksamkeit auf die Barmherzigkeit zu richten und nicht auf die Fehler der Vergangenheit. Und so klingt der Vers wie ein Hilferuf angesichts der Katastrophen unserer Zeit. Wer kann eine Veränderung bringen, wenn nicht Gott? Wer kann den rettenden Weg aufzeigen aus lauter Barmherzigkeit, wenn nicht Gott? Ja, zu groß erscheinen uns die Verwicklungen, als dass wir sie noch entwirren und zu einem Besseren bringen könnten. Gedenke Gott deiner Barmherzigkeit nicht unserer Vergehen!

So sehr ich solche Wünsche verstehen kann, klingen sie in meinen Ohren doch sehr eigenartig. Vor zwei Jahren wurde uns deutlich, dass mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine unsere Vorstellungen von einem friedlichen Europa eine Illusion war. Eigentlich hatte alles schon 12 Jahre davor begonnen, als Russland die Krim besetzte und in anfangs unklarer Weise in der Ostukraine agierte. Zu gern haben wir den Entschuldigungen und den erfundenen Wahrheiten geglaubt, denn wir konnten uns nicht vorstellen, dass wir falsch liegen könnten. So viel hatten die Menschen in den 80iger Jahren eingesetzt für Frieden und mit der Vereinigung Deutschlands und Europas war es doch klar, dass eine andere Zeit begonnen hatte. Sollte das nun doch anders sein? Gab es da Menschen, die den Frieden nicht wollten, sondern Macht über andere?

Ähnlich aufwachen mussten wir nach dem 7.Oktober des letzten Jahres, als die Hamas-Kämpfer Israelis ermordeten und damit ihren Willen zur Zerstörung des Staates Israel neu offen bekundeten. Hatten wir gehofft, dass es eine Lösung geben wird, die zum Frieden führt, wenn wir nur lange genug wegschauen? Und so müssen wir auch bei diesem Konflikt lernen, dass es Menschen gibt, die keinen Frieden wollen.

Wir alle durchleben gerade einen schmerzlichen Lernprozess, denn die Probleme sind komplexer und die einfachen Ideen vom Frieden, die wir so hatten, haben kaum eine Realität in der Zukunft.

Liebe Gemeinde, es ist gut, an einem Sonntag wie diesen sich zu besinnen und nachzudenken. Wir werden aufgefordert, unsere Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken. Viele sind zurzeit damit beschäftigt, Militärexpert*innen zu werden oder Berater*innen fürs Auswärtige Amt. Mit dem Sonntag Reminiszere sind wir eingeladen unser Augenmerk auf die Barmherzigkeit zu legen.

Ein Name Gottes ist Barmherzigkeit, so dass er eigentlich nicht erinnert werden muss. Die Erinnerung unseres Psalmverses gilt eher uns Menschen. Dieses altmodische Wort „Barmherzigkeit“ wird heute fast nicht mehr gebraucht. Ein Erbarmen, das vom Herzen kommt, ist in einer Gesellschaft, in der das Recht des Stärkeren gilt, eine ungewöhnliche Handlungsweise. Das Erbarmen hat in der Tradition der Bibel seinen Ort im Körper, im Bauch, in den Eingeweiden. Und so verbinden sich im Wort Barmherzigkeit Bauch und Herz miteinander, die Orte des Gefühls. Bei Barmherzigkeit spielt also der Verstand nicht mit, der in unserer Welt so wichtig ist. Am besten wird es in der Geschichte vom barmherzigen Samariter deutlich, der den Überfallenen am Straßenrand liegen sieht, in seinem Herzen angerührt ist und auf ihn zugeht und hilft.  Die Fragen und Taktiken des Verstandes kommen nicht vor. Barmherzigkeit bedeutet Sehen – Angerührt werden – Handeln. Die Seligpreisungen reden nicht drum herum: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Barmherzigkeit kommt zum Ziel.

Doch lassen sie uns noch etwas genauer hinschauen, um zu verstehen, was bei Barmherzigkeit geschieht. Es beginnt mit dem Sehen, mit dem Wahrnehmen der Welt, der Menschen und ihrer Probleme. Das ist schon nicht so einfach für einige, denn wir sehen oft in dem anderen nicht den Menschen, der dort gerade ist, sondern wir sehen uns selbst und erkennen unsere eigenen Seiten, unsere Sorgen und Probleme. Der Verstand ist schnell dabei, uns alles, was wir sehen, zu erklären und in unser Denksystem einzuordnen. Da haben wir dann die Erklärungen für Täter und für Opfer und für alle möglichen Zusammenhänge.

Diesen Vorgang sollten wir uns klar machen, damit wir lernen, unseren Blick zu schulen und den Menschen neben uns in seine Augen sehen und damit in seine Seele. Barmherzigkeit lehrt uns sehen, den Menschen wahrnehmen mit seiner eigenen Persönlichkeit und Geschichte, eben als Mensch. Und da haben wir es mit der nächsten Herausforderung zu tun. Wie kann es gelingen bei Menschen, die wir ablehnen in ihrer Denkart und Lebensweise? Wie kann es gelingen bei Menschen, die sich schuldig gemacht haben, sie als Menschen zu sehen und nicht zu dämonisieren?

Das Anschauen des Menschen bewirkt, dass ich diesen ernst nehme in seiner Art und Weise und damit auch in seinem Handeln, egal ob ich dieses befürworte oder ablehne. Das Hinschauen bringt den Menschen in seine Verantwortung. Und, liebe Gemeinde, sie können sich vorstellen, dass in diesem Prozess der Verstand mit seinen Fragen und Erklärungsmustern nicht unbedingt hilfreich ist. Wir können es uns am Beispiel mit der ehernen Schlange in der Wüste deutlich machen. Mose richtet diese auf und wer sie anschaut, wird nicht sterben, wenn er gebissen wird. Der Verstand fängt gleich an, dies alles in Frage zu stellen: Das geht doch nicht. So eine Märchengeschichte. Das ist ja wie Homöopathie – etwas mit dem Gleichen zu bekämpfen.

Schauen wir anders auf diese Geschichte, können wir lernen, dass es wohl sehr hilfreich ist, die Gefahr, das Negative anzuschauen, um gerettet zu werden. Schauen wir also Täter, Verbrecher und Kriegstreiber als Menschen an, um zu verstehen, was sie bewegt, um zu lernen, wie Menschen zu solchen Entscheidungen kommen. Barmherzigkeit geht hier mit der Liebe des Herzens Hand in Hand. Und beides kann nur auf der Grundlage des Vertrauens auf Gott geschehen. „Gott gedenke der Barmherzigkeit“, gedenke ihrer, damit auch wir uns von der Barmherzigkeit leiten lassen.

Liebe Gemeinde, die Passionszeit ist eine Herausforderung. Die einfachen Erklärungen unseres Verstandes haben eine Pause, damit wir mit unserem Gefühl in der Verbindung mit der Liebe des Herzens die Welt neu entdecken. Letztendlich ist es ein Weg, um immer mehr Mensch zu werden und Mensch zu bleiben in einer Welt, die uns für vieles andere einen Spiegel vorhält.

Die Seligpreisungen sagen es sehr klar: Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Barmherzigkeit kommt ans Ziel. Und so dürfen wir zuversichtlich sein, wenn wir uns für diesen Weg entscheiden. Durch Barmherzigkeit werden wir einen Weg zum Frieden finden, der jetzt noch gar nicht zu erkennen ist. Durch Barmherzigkeit werden wir einen Weg zu Ausgleich finden, der unmöglich scheint. Durch Barmherzigkeit werden wir einen Weg zu Gerechtigkeit finden, der ganz neue Möglichkeiten des Menschseins aufzeigt.

Der Verstand ruft natürlich gleich: Das geht doch nicht. Unmöglich. Alles pure Träumerei. Das angerührte Herz denkt nicht, sondern es lässt sich berühren und findet einen Weg aus Liebe für die Menschen und ihr Zusammenleben.

Gedenke, Gott, der Barmherzigkeit, damit wir ihrer gedenken und Barmherzigkeit lernen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.