Zauber der Dankbarkeit
Predigt zum Erntedankfest am 5.10.2025 gehalten in der Pauluskirche in Berlin Zehlendorf
Lesungen: Jes. 58,7-12 und Lk. 6,36-38
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
der Herbst ist die Zeit, in der die Ernte eingebracht ist, die Vorräte für den Winter gesammelt sind und wir auf den Reichtum schauen, den wir einfahren konnten. Danke sagen für das, was es alles gegeben hat; Danke für die Fülle, Danke für alles, was wir zum Leben bekommen haben. Die Ernte auf dem Feld ist das eine, darüber hinaus gibt es noch vieles Mehr, das wir zum Leben brauchen und das unser Leben lebenswert macht. Mit dem Wort Danke, können wir unser Leben verzaubern, denn wir schauen automatisch auf den Reichtum und die Fülle, für die wir dankbar sind und definieren uns nicht über den Mangel. Dankbarkeit hinterlässt glänzende Spuren in unserem Leben und lässt leicht den Weg zu Gott finden.
Eine besondere Kunst ist es, für die schweren Augenblicke und Erfahrungen einen Blick der Dankbarkeit zu entwickeln. Wenn Schmerzen nicht aufhören wollen, der Verlust im Leben die Welt verdunkelt oder alles in einer Aussichtslosigkeit zu versinken scheint, hilft Dankbarkeit eine neue Sicht zu finden, den Blick zu heben und durch den Tunnel einen Hoffnungsschimmer des Lichts zu erkennen. Dankbarkeit ist wie ein Geländer, an dem wir uns entlang hangeln können, wenn nichts mehr bleibt.
Aber Dankbarkeit ist nicht nur eine kraftvolle Haltung für unser eigenes Leben, sondern auch ein Türöffner im Zusammenleben mit anderen Menschen. Es macht einen großen Unterschied, ob ich den Menschen gegenüber mit dem kritischen Auge meiner Beurteilungen betrachte oder ihm danke für seine Dasein und dem, was er mir schenkt, auch wenn es mir möglicherweise gerade nicht gefällt, entgegenbringe. Eine solche Haltung würde grundlegend etwas zwischen uns Menschen verändern. Damit würden wir möglicherweise der Art und Weise, wie Gott uns als Menschen im Zusammensein gemeint hat, einen Schritt nähe kommen. Wir würden uns als gegenseitige Geschenke ansehen können, die Fülle und den Reichtum des anderen sehen. Vielleicht wäre diese Sicht der Dankbarkeit auch die Brücke, über die wir einen Weg zum anderen gehen könnten über Verletzungen und Trennungen hinweg. Es klingt fast wie Zauberei und ist bei genauem hinschauen doch ganz einfach – vielleicht auch zu einfach.
Die heutigen Lesungen malen ein Bild von dem, was uns erwartet, wenn wir einen solchen Zauber anderen gegenüber entstehen lassen können. So wurden wir aufgefordert im Evangelium: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Und bei Jesaja hieß es ganz eindeutig: Brich mit dem Hungrigen dein Brot; führe den Obdachlosen ins Haus; bekleide den Nackten! Entziehe dich nicht deinem Fleisch und Blut. Die biblischen Texte sind keine reinen Aufrufe zum caritativen Handeln, kein Aufruf zum Aktionismus. Schon gar nicht versprechen sie eine Beruhigung des schlechten Gewissens oder eine Belohnung und Belobigung in der Gemeinschaft. Sie sind eher als Prophezeiungen zu verstehen.
„Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und deine Heilung wird schnell voranschreiten.“ Diese Bilder beschreiben den Prozess des Menschwerdens vor Gott. Die Zuwendung zum anderen, zum Nächsten wird bewirken, dass in dem Menschen die göttliche Gegenwart wie das reine Licht am Morgen strahlen wird. Unverfälscht, rein und still. Da sind Gedanken, die zum Ego ablenken, überflüssig. Menschsein vor Gott hat etwa von der unverstellten Zuwendung des einzelnen zu jedem, der da ist – egal in welchen Verhältnissen er gerade lebt.
Und die Prophezeiung wird noch ausgeweitet: „Deine Heilung wir schnell voranschreiten.“, heißt es da. Unsere Seelen sind benebelt von den Wichtigkeiten der materiellen Welt und nicht selten haben sie Schaden genommen und die Orientierung verloren in dem Hin und Her der weltlichen Mächte, im Gezerre von Gut und Böse der einzelnen Parteien und Positionen. Nach Heilsein – Ganzsein sehnen sich viele Menschen, nicht nur körperlich, sondern von ihrer Seele her. Jesaja stellt ähnlich wie Lukas einen klaren Zusammenhang her: Dies ist zu erreichen in der Begegnung mit dem Menschen in meiner Nähe, mit meiner Zuwendung zu seiner Situation. Hinschauen, wahrnehmen, sich anrühren lassen und dann aus dem Herzen heraus handeln sind die Schritte, die die Umsetzung dieser Prophezeiung möglich machen. In unserer Gesellschaft scheint es mir, sind wir möglicherweise zu ganz anderen Erkenntnissen gekommen. Da heißt es eher: Einsparen, anfordern, abgrenzen, ausschließen. Das großzügige Maß, das Lukas fordert, ist in unserer Zeit schon lange nicht mehr selbstverständlich. Großzügigkeit wird eher als Dummheit angesehen statt als eine Tugend des Herzens. Doch hier wird klar, dass wir Menschen des Glaubens, diese Haltung nicht mehr mittragen können. Gott ist in Sachen Menschlichkeit nie kleinlich. Seine Idee von Menschlichkeit reichte bis in den Tod Jesu Christi und darüber hinaus. Und so sollen wir ein volles, gerütteltes und überfließendes Maß an Menschlichkeit für unseren nächsten Mitmenschen haben. Der Glaube kennt Großzügigkeit und Offenheit als Weg des Miteinanders. Er ist geleitet von Liebe und Zuwendung.
Liebe Gemeinde, schauen wir noch einmal auf die Prophezeiung bei Jesaja, dann lesen wir, dass im Leben eines solchen zugewandten Menschen die Gerechtigkeit vorangehen wird und die Gegenwart Gottes folgt als Schutz hinterher. Die Zuwendung zu dem Menschen in Not wird zum Maßstab für das Handeln allgemein. Es geht nicht um Almosen und kurzzeitige Linderung der Not, sondern die Prophezeiung von Jesaja macht deutlich, dass die Berührung mit der Not des anderen im Herzen keine faulen Kompromisse oder Notpflaster zulässt. Das System muss umgebaut werden, dass die Gerechtigkeit strahlen kann und die Lücken zugemauert werden und die Wege ausgebessert, dass man da wohnen kann, wie es am Ende der Prophezeiung heißt.
Die Wege der Gerechtigkeit ausbessern, die Gerechtigkeitslücken schließen! Welch ein Traum. Wir leben in einem Land, in dem Menschen, die ihr Geld nicht durch Arbeit verdienen, keine oder sehr wenig Steuern zahlen müssen. Andere zahlen immer weniger, je mehr sie verdienen. Sie beteiligen sich nicht an der Ausgestaltung von Gerechtigkeit. Und das System befördert dieses Unrecht noch. Und so liegt es am Optimismus und der Großzügigkeit jedes einzelnen Menschen, diese Glaubenswahrheit im Alltag in eine Gestalt zu bringen.
Liebe Gemeinde, wir sind aufgefordert, das Licht der Menschlichkeit strahlen zu lassen in vielen kleinen Augenblicken. In der Gemeinde haben wir das „Warme Essen“, eine Kleiderkammer und wir treffen immer wieder Menschen, die durch Flucht und Heimatlosigkeit in Not geraten und nicht wissen wohin. Öffnen wir unsere Herzen und bringen wir uns ein mit den Möglichkeiten, die wir haben. So wird das Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und die Gerechtigkeit wird ihren Weg ziehen vor uns her. Mögen diese wunderbaren Bilder der Prophezeiung immer vor unserem inneren Auge sein und uns alle Tage leiten. Dies schenke uns der barmherzige Gott.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinnen in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.