Artikel

Jetzt ist die Zeit


Wir sitzen im Garten in der Sonne, die Altstadt von Jerusalem uns gegenüber. Für Januar ist es warm. Die Stadt ist still. Es ist Shabbat, und die Palästinenser streiken wegen der wachsenden Gewalt der israelischen Polizei. Die Salve eines Maschinengewehrs zerschneidet die Stille. Menschen schreien, Sirenen von Rettungsfahrzeugen erfüllen das Kidrontal. Unsere Herzen sind verkrampft, Angst kriecht durch die Glieder, die Stimme versagt. Und doch ist das stammelnde Gebet das Einzige, um unsere Hilflosigkeit zu erlösen. Alltag in den Palästinensergebieten, in Ostjerusalem – erfüllt von Gewalt und Angst!

27. Januar 1945: An diesem Tag wurde das Vernichtungslager AuschwitzBirkenau befreit. Nur wenige haben in dieser deutschen Tötungsfabrik überlebt. Auschwitz steht für das unermessliche Leid, den grausamen Tod und das nicht zu beschreibende Unrecht an den europäischen Juden zur Zeit des
Nationalsozialismus. Diese Wunde wird spürbar bleiben, denn sie beschreibt einen Zivilisationsbruch, an dem kein Mensch in der Nachfolgezeit vorbeikommen wird. Das menschliche Handeln, das in Auschwitz möglich war, hat die Sicht auf den Menschen und die Welt verändert. Schuld ist ein Aspekt, aber auch Verantwortung für ein Leben danach.

„Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm.“ So antwortet Jesus im Johannesevangelium (Kapitel 8, Vers 44) seinen Gesprächspartnern – alles natürlich Juden. Sie wollten seine Bedeutung, wie sie bei Johannes geschildert wird, nicht anerkennen. Bis heute steht diese Stelle
kommentarlos in der Bibel und kann so nachgelesen werden. Die Deutung dieser Worte hat in den Jahrhunderten Wirkung gezeigt. Judenfeindschaft, Mordvorwürfe und Vorurteile der Verlogenheit sind bis heute die gängigen Klischees, die die meisten noch gegenüber Juden kennen. Pogrome und Hass waren die Folge, und vor allem wurde es fast unmöglich, dass Menschen sich einfach begegneten, denn solche Vorurteile zerstörten und zerstören jede Begegnung. Als Christen stehen wir in dieser Tradition und in hrer Verantwortung.

Wenn ich heute den Israelis zu ihrer Staatsgründung vor 75 Jahren gratuliere, dann schwingen alle diese Gedanken in meinem Kopf mit. Ich höre von der politischen Entwicklung in Israel und Palästina, höre von religiösen Strömungen, die kein Problem haben Menschen zu bedrohen und zu ermorden, sehe den Antisemitismus in Deutschland und Europa. Natürlich wünsche ich dem Staat Israel weiterhin alle Kraft zum Bestehen und den Menschen im Land den Willen und die Fantasie für mehr Demokratie und Freiheit für alle Menschen.
Doch mein Wunsch ist eben nicht nur nach Israel gerichtet, sondern auch an die Menschen hier im Land. Wir müssen endlich unsere Hausaufgaben machen und zu all den schwierigen Fragen eigene Positionen finden und teilweise wirklich neue Wege gehen. So geht es nicht, dass wir Antijudaismus als Gottes Wort bezeichnen. Es geht nicht, dass wir solidarisch sind mit einer Regierung, die den Boden der Demokratie verlässt und Menschenrechte mit Füßen tritt. Es geht nicht, dass wir Strukturen zulassen, in denen Antise-
mitismus und Diskriminierung einfach übersehen werden können.
Jetzt ist die Zeit, dass wir beginnen, alle diese Fragen öffentlich zu besprechen, die Probleme zu benennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Als Christen und Christinnen in der Tradition des jüdisch-christlichen Dialogs sind wir es schon lange gewohnt, Sprache zu finden und uns neu zu orientieren. Diese Ausrichtung ist heute
nötiger denn je.