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Gewaltfreiheit – eine erloschene Vision?

Satyagraha

bedeutet wörtlich das Ergreifen der Wahrheit. Man hält an der Kraft der Wahrheit fest. Mohandas Gandhi entwickelt diese Grundhaltung als politische Strategie in seiner Zeit in Südafrika. Im Kern geht es darum, die Vernunft und das Gewissen des Gegners anzusprechen. Die eigene Gewaltlosigkeit bringt es mit sich, selber Schmerz und Leiden auf sich zu nehmen. Der Körper und sein Verharren in der Gewaltlosigkeit werden somit zur Waffe. Gandhi konnte die dem System von Unterdrückung ausgesetzten Inder in Südafrika und später die Bevölkerung in Indien von seiner Idee begeistern. Gewaltlosigkeit braucht viel Phantasie und Mut, sich der Gewalt des anderen zu stellen.

Der Weg nach Amerika

Die Bürgerbewegung der Schwarzen in Amerika, die um ihre Gleichberechtigung mit den Weißen kämpften, haben die Ideen von Gandhi übernommen. Martin Luther King verband das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe von Jesus mit den Praktiken des Satyagraha. So stellten sich die Bürgerrechtler gewaltfrei gegen die Polizeigewalt und setzten damit ein unübersehbares Zeichen.

Zweifel in Europa

Gandhi reiste 1931 nach London und später durch Europa. Viele waren von diesem „halbnackten Mann“ begeistert. Andere hatten jedoch schon damals Fragen wie Romain Rolland in der Schweiz. Ist ein solches Prinzip übertragbar auf andere Situationen und politische Verhältnisse? Wie verhält es sich dieses Grundprinzip mit der Idee der proletarischen Revolution?

Gandhi schrieb später einen Brief an Hitler und forderte ihn auf jede Form von Gewalt zu unterlassen. Doch hatte Gandhi das Wesen des Nationalsozialismus nicht verstanden, in dem es um das Recht des Stärkeren geht. Und der Stärkere durfte jede Form von Gewalt einsetzten, um die eigene Macht durchzusetzen. Europa versank in Gewalt und keine Idee von Gewaltfreiheit konnte es aufhalten. Erst die Waffen der Alleierten stoppt den Wahnsinn am 8. Mai 1945.

Gewalt heute

Der Krieg in der Ukraine macht deutlich, dass es immer wieder Regenten geben wird, die jede Form von Gewalt nutzen werden, um die eigene Herrschaft auszudehnen und andere Menschen zu unterdrücken. Lange hatten wir geglaubt, dass diese Haltung überwunden sei. Wir hatten jedoch nur die Augen verschlossen vor den Ereignissen der Welt. Diese Despoten gab es schon immer.

Eine bleibende Vision

Um so wichtiger ist es, dass die Vision der Gewaltfreiheit erhalten bleibt und uns trägt. Denn die Gewaltfreiheit ist der einzige Weg, auf dem Frieden entstehen kann.

Wenn die Waffen schweigen werden, dann ist der Krieg noch nicht zu Ende. Die Folgen im Land, die Zerrüttungen in der Welt bleiben und hinterlassen Narben. Die Bilder des Krieges und die Folgen von Gewalt tragen jeder einzelne Mensch in sich weiter. Jede Körperzelle speichert Gewalteinwirkung ab, so dass die Folgen sogar in der nächsten und übernächsten Generation weiterwirken werden.

Gewalt ist kein Weg in die Zukunft, denn Gewalt traumatisiert Menschen und zerstört Lebensperspektiven.

Die Tagespolitik mag in ihren Entscheidungen keine Alternative zur Gewalt haben, wenn es um gewalttätige Herrscher geht. Aber Gewalt ist nicht der Traum einer zukünftigen Welt. Die Bilder der Bibel – wo Schafe neben Löwen liegen, wo Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, wo Trauernde getröstet und ihre Tränen getrocknet werden, sind die Bilder, die uns auf einen Frieden hoffen lassen, der in unserem Herzen beginnt und in unsere Umwelt ausstrahlt. Satyagraha ist nicht Vergangenheit, sondern der Traum einer besseren Zukunft.