Predigten

Barmherzigkeit Gottes – eine Alternative

Predigt zu 4.Mo. 21,4-9 und Lk. 10,25-36 gehalten am 28. Februar 2021 in der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Gemeinde,

heute am zweiten Sonntag der Passionszeit sind wir eingeladen, über Barmherzigkeit nachzudenken. Es ist ein altes Wort, das in unserem heutigen Sprachgebrauch kaum noch vorkommt. Meist haben wir es reduziert auf das Handeln von Menschen, die einem anderen, der kaum eine Chance hat, etwas Gutes tut. Bei Barmherzigkeit fällt mir immer gleich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ein. Der Samariter sieht den Überfallenen, er geht hin und er kümmert sich um sein Leid. Das ist ganz konkret: Er gibt ihm zu trinken; er bedeckt seine Nacktheit; er nimmt ihn mit an einen sicheren Ort; er sorgt, dass er sich nachhaltig erholen kann. So könnten wir ein Handeln beschreiben, bei dem eine Bewegung des Herzens, der Grund für die Zuwendung ist – ein barmherziges Handeln. Der Samariter ist zum Vorbild für viele geworden, die Gutes in dieser Welt tuen wollen, die ein Zeichen setzten wollen und sich mit dem Leid in der Welt nicht zufriedengeben. Doch ich frage mich, ist damit eigentlich schon beschrieben, was Barmherzigkeit ist?

Die Geschichte aus dem 4.Buch Mose, die wir heute gehört haben, hat mich auf eine andere Spur gebracht. Machen wir uns deutlich, was geschieht: Das Volk Israel zieht weiter durch die unwirkliche Gegend einer kargen Landschaft. Und sie kommen an eine Stelle, an der giftige Schlangen sind, von denen sie gebissen werden. Der Erzähler der Geschichte sieht den Grund für dieses Geschehen im Handeln des Volkes Israel: Sie haben gemurrt gegen Mose und gegen Gott. Er versucht, die Katastrophe in den Weg des Volkes Israel mit Gott einzubauen und gibt ihm einen Sinnzusammenhang als historisches Ereignis. Aus der verzweifelten Situation heraus hilft das Zeichen einer ehernen Schlange, die Mose an einem Stock aufrichtet. Wer auf diese Schlange schaut, wird nicht sterben, wenn er gebissen wurde. Gott zeigt Mose, diese Möglichkeit und damit dem Volk einen Weg der Rettung. Es kommt das Wort Barmherzigkeit nicht vor, aber die Bewegung des Hörens, Zuwendens und Handelns hat die gleiche Struktur, wie beim barmherzigen Samariter.

Liebe Gemeinde, es ist ja fast provozierend, eine solche Geschichte in pandemischen Zeiten zu bedenken. Oh, wie sehnen wir uns alle nach einem solchen Ausweg, der uns nicht mehr sterben lassen wird an dem Virus. Wie sehnen wir uns danach, dass es eine Rettung gibt, dass endlich ein barmherziges Handeln gibt, dass uns aus dieser Misere herausholt. Forscher, Pharmazeuten, Politiker werden fast zu Heilsversprechern, wenn sie die nächsten Schritte ankündigen, um eine „Schlange aufzurichten“. Und dann ist es doch nur eine Pappfassade, die nicht hält, was die Menschen von ihr erwarten. Und damit merken wir aus eigener schmerzlicher Erfahrung, dass diese Idee der Heilserwartung eine Haltung ist, die uns zu Opfern macht. Wir werden passiv und können nichts mehr tun, sind den Umständen ergeben und ausgeliefert. Das Heil kommt von außen und wir müssen so lange warten, bis es endlich eintritt. Wann ist Gott uns endlich gnädig?

Schauen wir noch einmal auf die Geschichte aus dem Buch Numeri. Mose richtet eine eherne Schlange auf und wer gebissen wurde, schaut diese an und wird leben. Hier wird eine Bewegung beschrieben. Die einzelnen müssen etwas machen. Sie müssen nämlich die eherne Schlange anschauen, um zu leben. Diese eherne Schlange ist eine Alternative zur bestehenden Wirklichkeit, ein Gegenbild, ein Bild, das eine andere Sichtweise – nämlich die des Lebens – ermöglicht. Dasitzen und jammern, reicht nicht. Wer diese Alternative nicht anschaut, wird auch nicht leben.

Liebe Gemeinde, sie haben gemerkt, dass ich mit meiner Interpretation die Geschichte aus der alleinigen historischen Bedeutung gelöst habe. Ich mache sie zu einer Lehrgeschichte, die mir etwas zeigen möchte für die heutige Zeit; die mir aber auch etwas über das Göttliche erklären kann. Wenn wir über die Barmherzigkeit Gottes nachdenken, dann entsteht für mich die Frage, was steckt eigentlich hinter einem Handeln, das sich dem anderen Menschen und der Ermöglichung des Lebens zu wendet. In der Mose Geschichte sehe ich eine ganz deutliche Spur. Barmherzigkeit ist das Geschenk, die Bedingungen der Welt aus einer anderen Richtung anzuschauen. Barmherzigkeit ist die Möglichkeit zur Alternative. Gottes Barmherzigkeit ist nicht eine konkrete Handlung, sondern eine Verschiebung unserer Sichtweise hin zu einer Alternative des Lebens. Im Bild der Geschichte gesprochen heißt das, die Schlangen sind real und beißen. Aber ob ihr Biss tödlich ist, hängt von der Sichtweise des einzelnen ab. Sieht er die Alternative – eine Schlange aus Eisen gemacht – kann er dieser Wirklichkeit eine Kraft zusprechen, kann er darauf vertrauen oder sind die Erklärungen des Verstandes die einzigen Möglichkeiten, das Erlebte zu erklären? Bitte verstehen sie mich nicht falsch, ich öffne hier keine Tür für irgendwelche Verschwörungstheorien und Leugnungspredigern in der heutigen Zeit. Ich möchte sie darauf aufmerksam machen, dass wir in der Tradition leben, die immer wieder lernt, Wirklichkeit aus einer anderen Perspektive zu betrachten.  Viktor Frankel – ein Psychologe, der Auschwitz überlebte, hat dieses Phänomen untersucht und festgestellt, dass Menschen ihren Lebenswillen aufgaben, wenn sie keine Alternative sahen, neben dem Unmenschlichen einen menschlichen Blick, eine Geste, eine Alternative des Lebens zu setzen.

Und der christliche Glaube ist in seinem Kern genau diese alternative Sichtweise. Das Kreuz auf Golgatha können wir nur verstehen und hat für uns Bedeutung durch das leere Grab von Ostern. Gottes Gegenwart bleibt bei den Menschen durch den Tod hindurch. Das Kreuz ist nicht die Endstation, sondern das Grab ist leer. Als Christ:innen glauben wir diese Alternative und wir lassen unser Leben bestimmt sein von dieser Freiheit von der Angst. Es ist eine Umdeutung, eine Alternative, die wir hier in unser Leben lassen und durch die auch andere Zusammenhänge ganz anders erscheinen.

Liebe Gemeinde, machen wir es deutlich für unseren Alltag. Gern könnte man heute in die großen Zusammenhänge abgleiten. Die wissenschaftliche Forschung und ihre Deutung, die verantwortliche Umsetzung in politischen Entscheidungen sollten wir jedoch den Menschen überlassen, die dafür bezahlt werden und die meistens auch etwas davon verstehen. Wir sind Spezialisten für unser Leben und so sollten wir beginnen, dieser Barmherzigkeit Gottes eine Chance in unserem Leben zu geben. Da ist die Frage nach dem nächsten Gedanken, den wir denken: Ist er ein Gedanke des Lebens oder entscheiden wir uns für ein Opferprogramm? Ist unser nächster Schritt ein Schritt auf dem Weg der Liebe oder gehen wir zielstrebig auf das nächste Loch zu, in das wir fallen? Sehen wir in jedem Augenblick die Alternative, die wir haben oder sind wir langsam, müde und resigniert? Die Barmherzigkeit Gottes will uns wachrütteln ins Leben. Aber wir müssen es eben selber tun und bereit sein dazu.

Liebe Gemeinde, wir sind in der Passionszeit mit Jesus auf dem Weg, die Tiefen des Lebens und die Zusammenhänge besser zu verstehen und in sie einzutauchen. Ja, beginnen wir die Spuren der Barmherzigkeit Gottes in unserem Herzen zu erspüren, damit wir selber in jedem Augenblick die wache Entscheidung für das Leben treffen können. Üben wir den Weg aus der Barmherzigkeit uns selbst und unseren Nächsten gegenüber, damit wir immer wieder das Leben neu entdecken und gestalten können.

Dazu schenke uns Gott Mut und Phantasie.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.