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Mehr Achtsamkeit

Der bewusste Blick zur anderen Seite, der Schritt zurück, das Behandeln als wäre ich Luft – wie sehr kenne ich dieses Verhalten. Keiner spricht es aus, aber die Gesten sagen es eindeutig: Du gehörst nicht dazu. Du nicht! Denn du bist anders! Und dann finden sich Ordnungen, hinter denen sich Verantwortliche zurückziehen können, die sie entschuldigen und rechtfertigen.

Auf dem Höhepunkt meiner Erfahrungen solcher Art vor ca. 20 Jahren blieb ich innerlich erstarrt. Meine Seele weinte und zurück blieb eine große Wut über das Ausgeliefertsein. Heute weiß ich, dass es Gewalt war, die mir angetan wurde – Gewalt mit Worten, Gesten, Gewalt durch die Strukturen der Kirche. Man erklärte mich zum besonderen Seelsorgeobjekt und machte sich selbst in den Strukturen von Diskriminierung zum Wohltäter.

Heute weiß ich, dass ich diese Erfahrungen mit vielen Menschen im Raum der Kirche teile. Frauen, People of Colour, Menschen mit Behinderung, LGBT-Menschen. Die Erfahrung, dass Grenzen überschritten werden, oder dass Menschen sich nicht dazugehörig fühlen, bestimmt den Alltag vieler.

Die Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendlich im Raum der Kirche haben Menschen wach werden lassen. Der Gipfel eines Eisbergs wird sichtbar.  „Freundlichkeit, wie wir sie verstehen, schließt Klarheit und Realismus ein. Das biblische Menschenbild ist klar und realistisch, es schärft das Bewusstsein für die menschliche Fehlbarkeit. Diese findet sich ebenso außerhalb wie innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Wir rechnen daher klar mit der Möglichkeit, dass es auch in unseren Reihen zu grenzverletzendem Verhalten kommen kann. Wir sehen realistisch die statistische Wahrscheinlichkeit, dass es auch bei uns passiert. Und wir wissen: Wo die Erwartung höher war, wird die Enttäuschung umso tiefer sein. 

Aus diesem Grund haben wir, der Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf, ein Präventions- und Kriseninterventionskonzept verabschiedet. Es gilt allen, die bei uns beruflich oder ehrenamtlich arbeiten oder sich uns anvertrauen.“ Mit diesen Worten leitet der Superintendent, Johannes Krug, das Vorwort zum Konzept ein.

Der erste Schritt auf diesem Weg ist die Achtsamkeit für unser Umfeld und uns selbst. Es gilt hinzuschauen, anzusprechen, sich zu beraten und Menschen vor sexualisierter Gewalt, aber auch vor jeder anderen Form von Gewalt zu schützen. Dazu braucht es fachkundige Menschen, die ihren Blick schulen, beraten und Lösungswege suchen. Der Kirchenkreis baut diese Strukturen gerade auf und schärft bei den Menschen das Bewusstsein für die Lage. Danke für dieses Zeichen der Hoffnung.

Das Menschenbild der Bibel, von dem Herr Krug sprach, ist einerseits vom Schöpfungsbericht bestimmt. Jedes Lebewesen wird nach seiner Art geschaffen, hat seine Berechtigung und ist ein Teil des Ganzen – so auch jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit. Aber auch das Gebot der Nächstenliebe hält uns an, den Nächsten zu achten und seine Würde zu schützen. Ja, es ist noch mehr, es ist auch eine Aufforderung zur Selbsterforschung. „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ (Mt. 19,19; Lev. 19,18) Gewalt gegen andere ist also auch Gewalt gegen uns selbst.