Verstehendes Miteinander
Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis (Kirche und Judentum), 4. August 2024 in der Pauluskirche Berlin-Zehlendorf gehalten.
Texte: Sach. 8,20-23 und Mk. 12,28-34
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
am Anfang August befindet sich im jüdischen Kalender der Monat Aw. Am 9.Aw gedenken die Juden der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Die Babylonier zerstörten Stadt und Tempel im Jahre 587 vor Chr. Mit diesem Ereignis wurde die Führungsschicht des Volkes in die Gefangenschaft nach Babylon geführt. Es war eine unglaubliche Katastrophe für die Menschen, aber auch für den Glauben. Erst zwei Generationen später ließen die Perser eine Rückkehr zu.
Und dann kam es nach einem Wiederaufbau im Jahre 70 n. Chr. zu einer erneuten Zerstörung durch die Römer. Einen Aufbau gab es nicht mehr. Die Römer nannten das Land nicht mehr Israel, sondern Palästina. Juden durften dort nicht mehr wohnen, so dass sie überall im römischen Reich siedelten und später auf der ganzen Welt. Der 9.Aw ist ein Trauertag, denn die alte Heimat, das Zentrum des Glaubens in Form eines Hauses sind zerstört. Seit 691 steht an der Stelle des Tempelbereichs der Felsendom, ein heiliger Ort der Muslime.
Für die Juden hat sich das Zentrum des Glaubens auf die Torah verlagert mit ihren Auslegungswerken – der Mischna und der Germara gesammelt und kommentiert im Talmud. Sie kann überall hin mitgenommen werden, sie ist ein Ausdruck der Gegenwart des Göttlichen in der Welt, im Leben jedes Glaubend, ist Wegweisung und Herausforderung zugleich.
Aber es ist auch die Sehnsucht geblieben nach diesem Ort, der für Jahrhunderte die Heimat und der Ursprung des Glaubens war – nämlich Jerusalem und das Land Israel. In den Liturgien am Schabbat, zu Pessach und den andere Wallfahrtsfesten ist diese Sehnsucht immer wieder formuliert: Nächstes Jahr in Jerusalem.
Jesus war erfüllt von dieser Sichtweise. Er selbst versuchte aus seinem Verstehen der Welt heraus, eine Auslegungsweise zu finden, die er als wegweisend und der Torah entsprechend empfand. Er hatte seine Mischna entwickelt, später eine christliche Mischna, eine christliche Auslegungsweise der Torah. Wie kann ein Leben gestaltet werden in einer Welt, die von Jahwe – Adonai geschaffen wurde? Eine schwierige Frage für Glaubende aller Zeiten, die keine einfache Antwort möglich macht, schon gar nicht eine, die für alle Zeiten in gleicher Verstehensweise gilt. Denn wie können wir Menschen wissen, was Gottes Wille ist, was er mit dieser Welt und den Menschen wollte und auch möglicherweise vorhat. Jesus hatte seine Position vertreten und im ringenden Austausch mit den Pharisäern und Schriftgelehrten erklärt und begründet. Das Evangelium erzählt von einer solchen Situation, einem Gespräch der Gelehrten, die sich in ihrem Glauben miteinander auseinandersetzen. Damals als auch heute ist es leicht, den Argumenten von Jesus zu folgen. Ein Zusammenleben in der Welt zu gestalten, dass das Göttliche als tragenden Grund und Zusammenhang von allem versteht und dieses dann noch als Liebe definiert, ist aus meiner Sicht ein reizvoller Weg. Zwischen Menschen und im Zusammensein mit der Welt – den Tieren, Pflanzen, den Elementen– ein fürsorgliches und gegenseitig förderliches Miteinander zu sehen, ist für mich angesichts sich verändernde klimatischer Bedingungen auf der Welt sehr logisch und erstrebenswert. Das Prinzip ist klar, doch müssen wir nun über die Einzelheiten reden. Und ich glaube, darin liegt die eigentliche Herausforderung für uns. Wir machen gerne blumige Worte, doch bei den konkreten Schritten vertagen wir unsere großartigen Ziele auf den nächsten Tag. Oder wir wünschen uns einen, der uns sagt, was wir tun sollen. Das ist die einfache Variante.
Die Bibel kennt ein solches Verstehen in der Hoffnung auf das Kommen des Messias. Wenn er kommt, dann wird alles gut. Gott errichtet seine Gerechtigkeit auf Erden. Ein theokratischer Staat wird errichtet mit dem Messias an der Spitze, in dem die Regeln der Torah gelten und alle danach leben. Aus heutiger Sicht keine verlockende Vorstellung, denn von Demokratie, Mitbestimmung und von einem aus dem Glauben gestalteten Miteinander ist da nicht die Rede.
Der Prophet Sacharia malt ein anderes Bild, in dem die Glaubenden die Verantwortung übernehmen. Alle Völker werden nach Jerusalem kommen oder Gesandte in die Stadt schicken, die am Tempel von Jerusalem zusammen den einen Gott anbeten. Nicht-Juden bilden mit Juden zusammen eine Gottesdienstgemeinschaft, da sie verstanden haben, dass Gott mit seinem Volk Israel ist und es nicht verlassen hat. Ein starkes Bild, denn Sacharia entwickelt es nach der babylonischen Gefangenschaft. Und auch in der heutigen Zeit bleibt es eine Herausforderung.
Liebe Gemeinde, wir haben den geschichtlichen Rahmen, ein paar wenige Aspekte der Texte umrissen und sollten nun schauen, was bedeuten diese Ideen und Bilder eigentlich für uns heute?
Halten wir fest, dass Jesus um seinen Glauben mit anderen Gelehrten der Torah rang. Glauben und Glaubenserkenntnisse fallen nicht vom Himmel, sondern sie sind Frucht der Auseinandersetzung, des Lernens und Forschens. Ja, sicher bleibt der Glauben ein Geschenk, das wir uns nicht erarbeiten können. Ich stimme Luther vollkommen zu. Aber der Boden, auf dem Glauben gedeihen kann, der muss bereitet werden. Das Streitgespräch mit anderen Glaubenden ist eine wichtige Grundlage und damit auch eine wichtige Aufgabe in unseren Gemeinden.
Über Jahrhunderte hat dieses Glaubensgespräch der Christen nur mit sich selbst stattgefunden, meistens in der eigenen engen kleinen Gemeinschaft im Abendland oder getrennt davon im Orient.. So entstanden gewaltige Lehrgebäude, die selbst Studierte nicht mehr recht durchschauen. Es entwickelten sich Gedanken, bei denen Jesus mit seiner Torahzentriertheit sicher den Kopf geschüttelt hätte. Das Selbstgespräch hat dazu geführt, dass sich Christen über Jahrhunderte selbst bestätigt haben, wie großartig sie sind. Gepaart war das mit dem Schlechtmachen der anderen – von Anfang an waren da die Juden im Blick, deren Bild sich vor allem aus Vorurteilen zusammensetzte. Später kamen dann Muslime und heute andere Glaubende dazu. Sich selbst für besonders wichtig zu nehmen, bedeutet Gott klein zu machen.
Halten wir fest: Heute brauchen wir ein ernsthaftes Gespräch zischen Juden und Christen, das auf Augenhöhe geführt wird. Keine christliche Besserwisserei oder jüdische Belehrung. Eben ein Gespräch. Ich glaube, wir müssen wirklich lernen, was das eigentlich ist und wir müssen es üben. Dazu gehört auch, dass man beim Reden nach seiner Position sucht, sie entwickelt und mit anderen zusammen neue Erkenntnissen findet. Der Streit um Wahrheiten sollte der Vergangenheit angehören. Lernen wir, als Menschen miteinander zu reden, die auf der Suche nach einem Leben mit dem Göttlichen sind. Dabei können wir viel Neues entdecken und die Welt ganz anders verstehen.
Liebe Gemeinde, und halten wir noch ein Drittes fest. Die christlich-jüdische Geschichte durch die Jahrhunderte und die deutsch-jüdische Geschichte im 20.Jahrhundert haben ihre Spuren hinterlassen. Sicher tragen wir, die wir heute Leben, keine Schuld daran, aber wir sind tief verwoben in die Zusammenhänge, aus denen uns Verantwortung für die Zukunft entgegenkommt. Die größte Herausforderung ist in dabei die Zusammenhänge in Politik und Gesellschaft verstehen und einordnen zu können. Viele Meinungen kursieren in den sozialen Medien, aber wenige Fakten. Schnell sind alle mit ihren Positionen in der Öffentlichkeit. Zur Verantwortung in dieser Zeit, zählt auch, dass man sich und seine Sichtweise kritisch hinterfragt. Habe ich wirklich die wichtigsten Fakten wahrgenommen? Kann ich mit meiner Position zur förderlichen Entwicklung der Dinge beitragen? Welche Motivation habe ich für mein Denken, Reden und Handeln? Ist es das Zusammensein aller oder mein Egoismus, der mich ins Rampenlicht stellt? Muss ich meine Sichtweise wirklich kundtun oder ist Schweigen doch Gold?
Liebe Gemeinde, ich wünsche uns, dass wir mehr Mitgefühl für die Menschen um uns herum entwickeln, die Angst vor bestimmten politischen Entwicklungen haben. Ich wünsche uns, dass wir einen Forschergeist entwickeln, der den Zipfel des Gewandes des Juden ergreift – wie es bei Sacharia heißt – um Neues zu entdecken. Und ich wünsche uns ein wenig mehr Bescheidenheit und Demut im Durchschreiten unserer Zeit mit ihren Problemen und Konflikten. Wir sind keine Nahostexperten und sind auch nicht mit der Wahrheit geimpft, sondern wir sind Suchende auf dem Weg mit Gott. Rüsten wir ab und leben wir aus der Gnade der Vergebung, die uns entgegengebracht wurde. Und geben wir dies Gnade weiter.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unser Herzen in Christus Jesus, unseren Herrn. Amen.