Judika – Ein Leben für viele
Predigt am Sonntag Judika, 3. April 2022, gehalten in der Pauluskirche in Berlin-Zehlendorf
zu Mk. 10,35-45
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.
Liebe Gemeinde,
mit dem heutigen Sonntag „Judika“ – auf Deutsch „Richte mich“ – begann in der frühen Kirche die eigentliche Fastenzeit. Die Altäre in den Kirchen wurden verhängt, in der Liturgie fiel das Halleluja und der Lobpreis weg und die Speiseregeln wurden streng eingehalten. Also wenn sie bis jetzt noch nicht richtig mitbekommen haben, dass Fastenzeit ist, ab heute gibt es die Möglichkeit für Späteinsteiger, die Shortversion. Ab heute „ohne“ bis zum Karsamstag. Der Grund für diese Fastenzeit ist eigentlich die Geschichte von dem Leidensweg Jesu vor seiner Kreuzigung und die Deutung dieses Kreuzestodes. Menschen begeben sich hinein auf diesen Weg, um nachzuspüren, was dieser Weg für uns bis heute ausmacht. Aber es geht vor allem auch um die Bedeutung des Todes Jesu bis in die heutige Zeit. Traditionelle wird der Tod Jesu als ein Opfer verstanden, mit dem Gott versöhnt wird. Jesus trägt die Sünden der Menschen und versöhnt den Menschen, der seit Adam in Sünde gefallen ist mit Gott. Zu dieser Auslegung möchte ich gern ein paar Fragen formulieren, die mir dazu kommen: Hat Gott nicht schon in der Geschichte von der Bindung Isaaks durch Abraham wissen lassen, dass es keine Menschenopfer geben soll? Wie kann der Tod eines Menschen vor 2000 Jahren eine Wirkung auf die Folgen unseres Tuns heute haben? Gibt es nicht auch andere Möglichkeiten den Tod Jesu zu verstehen? Und welcher Gott ist das, der ein Menschenopfer braucht, um versöhnt zu sein?
Fastenzeit – eine Zeit der Besinnung, in der wir uns klar werden können über all diese Zusammenhänge und Fragen. Und sie gibt uns die Möglichkeit die biblischen Geschichten aus der Perspektive heutigen Erlebens und heutigen Denkens zum Schwingen zu bringen. Gern können wir uns zu einem theologischen Gespräch treffen, um die historische Dimension der uns heute vorliegenden Problematik zu erörtern. An dieser Stelle möchte ich jedoch meinen Blick nach vorn richten.
Schon beim Wochenspruch: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Mk 10,45) drängen sich in den heutigen Tagen ganz andere Bilder und Assoziationen auf. Wir erleben gerade, dass Menschen ihr Leben verlieren, für ihre Heimat, ihre Freiheit und ihre Rechte kämpfen. Und sie kämpfen stellvertretend für uns, die wir von diesem Konflikt entfernt sind und entfernt bleiben wollen und müssen. Sie übernehmen eine Stellvertreterrolle, sie kämpfen für unsere Freiheit und wir danken ihnen das mit unserer Hilfe. Aber wir setzen uns auch in unsere warmen Wohnungen und tuen so als wäre alles wie immer. Die Verantwortung ist uns abgenommen. Wir sind irgendwie entfernt von dem Geschehen. Irgendwie haben wir das Gefühl, dass es uns doch nichts angeht. Das ist bequem bei Gott und in der Welt. Die anderen machen es schon.
Ähnlich ist es auch bei Jakobus und Johannes aus unserer Lesung. Sie wollen gern eine Sonderstellung. Mir ist nicht so ganz klar, worauf diese sich bezieht. Meinen sie eine Herrlichkeit Jesu auf der Erde oder in einer anderen Welt? Sie wollen jedenfalls an seiner Seite sein. Und das natürlich vor den anderen 10 Jüngern. Wahrscheinlich sehen sie sich selbst als besonders toll an. Und sie denken, dass sie es sicher verdient haben. Ein anderer möge das für sie alles erledigen. Das löst natürlich Unmut aus.
Jesus nimmt sie mit ihrem Anliegen hinein in eine andere Denkrichtung. Und er macht ihnen klar, dass dieses Besserseinwollen in der Welt immer dazu führt, dass andere in eine niedrigere Stellung gebracht werden. Besser geht eben nur, wenn es auch schlechter gibt. Und er dreht mit seiner Ausführung die Verhältnisse um. Der, der oben sein will, der soll den anderen dienen und wer der Erste ist, der soll abhängig von den anderen sein. Wir könnten sagen, er führt die Sichtweise von Gott her ein. Denn bei Gott haben die Einteilungen und Bewertungen, wie wir sie kennen, keinen Bestand und keine Bedeutung. Vor Gott sind alle Menschen – egal was ihr Äußeres ausmacht oder wie sie leben. Ein ganz anderer Maßstab, der hier angelegt wird; eine ganz andere Ausrichtung für das Leben, als wir so oft denken. Höher, schneller, weiter, jünger, erfolgreicher ist aus Gottes Sicht bedeutungslos, denn es zählt der Mensch und das Menschsein.
Liebe Gemeinde, ich möchte gerne diese Geschichte aus dem Markusevangelium ins Gespräch bringen mit einem Vers, der dem Abraham gesagt wurde. Im 1. Buch Mose Kapitel 12 heißt es: „Gott sprach zu Abram: … Ich will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (V.2) Abram vertraut ganz auf Gott, seine Gegenwart und sein Wirken. Er weiß, dass sein Leben in diesem großen Zusammenhang eingebunden ist und er letztendlich ein Werkzeug dieses Gottes ist. Seine Bindung an Gott ist so groß, dass man sagen könnte, sein Leben wird gelebt, er lässt sich führen und vertraut selbst in der unglaublichsten Herausforderung, die er nicht verstehen kann -nämlich die Bindung seines Sohnes Isaak – auf Gottes Gegenwart. Aus diesem Geführtwerden heraus wird sein Leben zum Segen; ein Segen, der für andere wirkt, der das Leben anderer Menschen um sich herum und in der Zukunft mit einbezieht.
Liebe Gemeinde, die Worte an Abram geben uns einen anderen Impuls für die veränderte Perspektive bei Gott. Wenn Jesus die Verhältnisse umkehrt, dann fordert ja nicht die einzelnen auf, dass sie alle Diener werden, sich überlegen, was sie Tolles machen können und dann ihr Leben als Dienst aufopferungsvoll für andere gestalten. Das würde zu einer Darstellung der Egos führen und wieder zum Schneller, Höher, Weiter. Dienen bezeichnet hier eine andere Dimension von Leben. Es geht um eine Lebenshaltung. Verbinden wir es mit den Worten an Abram, dann könnten wir sagen, Dienen ist ein Leben führen, dass zum Segen für andere wird. Es ist ein Leben aus dem Geführtwerden von Gott her. Also nicht mein toller Plan ist gefragt, sondern der Schritt, der gerade in diesem Augenblick gebraucht wird, an den ich vielleicht gar nicht gedacht habe. Bei den einzelnen Entscheidungen und Schritten meines Lebens habe ich das Wohl der anderen im Blick. Doch nicht wie ich es mir denke, sondern wie es sich aus dem Vertrauen auf Gott heraus ergibt. Dienen bedeutet, Vertrauen auf Gott zu lernen, zu ringen mit den Entscheidungen, die notwendig und wichtig sind, wie es Jesus im Garten Gethsemane tat. Jesus ist nicht geflohen. Er blieb, obwohl er ahnte, dass der Tod ihm sehr nahekommen wird. Abraham und Jesus lehren uns ein Vertrauen, das einen tiefen Grund im Herzen hat und den Verstand mit seinen Argumenten beruhigend an die Hand nimmt. Und das Vertrauen ist nicht enttäuscht worden: aus Abraham wurde ein großes Volk, Gottes Gegenwart reicht bei Jesus durch den Tod hindurch. Das Vertrauen befähigte sie, verantwortungsvoll den nächsten Schritt in ihrem Leben zu gehen, auch wenn er schwer oder unmöglich erschien.
Liebe Gemeinde,
diese Zeit mit seinen Ereignissen ist eine große Herausforderung. Wir sehen Menschen, die sterben, fliehen, trauern, traumatisiert werden. Wir sehen Möglichkeiten, die wir abwägen müssen, um den nächsten Schritt zu gehen. Dabei stellt sich die Frage: Wie verstehen wir unser Leben? Haben wir die Menschen neben uns, die Menschen in Europa, die Menschen der Welt und unsere Erde im Blick? Sind wir bereit Schritte zu gehen, die für uns Veränderung bringen werden und dem Wohle aller dienen? Sind wir bereit unsere Standards infrage zu stellen, wenn sie auf Kosten anderer beruhen? Sind wir bereit die immer gleichen Gedankenschleifen unseres Gehirns zu verlassen, um ganz neue Wege zu entdecken?
Liebe Gemeinde, ich weiß keine schlüssigen Antworten auf die Fragen, aber ich weiß, dass wir lernen müssen, unsere Perspektive zu verändern und die Verantwortung zu übernehmen. Ein Weg im Dienst an den Menschen, ein Weg der zum Segen wird für viele. In der Bhagavadgita, einem heiligen Buch des Hinduismus heißt es: Möge ich keinem Wesen Leid zufügen. Mit Abraham gesprochen: Möge ich ein Leben führen zum Segen für viele. Mit Jesus gesprochen: Möge ich ein Leben führen und den anderen dienen.
Die Fastenzeit lädt uns ein, den drängenden Fragen nachzugehen und ihnen Raum zu geben, damit wir Vertrauen zu Gott lernen können und entdecken, was es heißt, einen Weg in Frieden und Versöhnung in der Welt zu gehen getragen von der Liebe Gottes. Finden wir aktive Möglichkeiten, um mitzutun an dem Weg der Veränderung. Finden wir heraus, was die Veränderung der Werte, wie Jesus sie uns vorstellt, für uns bedeutet und welches Leben dann möglich wird. Es wird nicht geschehen, wenn wir es nicht tun. Also beginnen wir heute.
Und er Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unseren Herrn.